Hochverarbeitete Lebensmittel sollen Angstzustände, Depressionen und neurodegenerative Erkrankungen befeuern. Vieles ist noch unklar – doch es gibt immer mehr Daten
Fertiggerichte, Fastfood und Süßigkeiten sind fast immer hochverarbeitete Produkte. Die stehen im Verdacht, süchtig zu machen – und langfristig das Gehirn zu schädigen.
Cornflakes zum Frühstück, zu Mittag ein Fastfood-Burger und zum Abend, weil es schnell gehen muss, eine Fertigpizza. Nicht immer wird die tägliche Ernährung so aussehen, aber wenn man ganz ehrlich ist, finden sich wohl so einige Frühstückscerealien, Tiefkühlgerichte, Snackriegel, verpackte Süßigkeiten und mehr auf dem eigenen Speiseplan. Genau diese hochverarbeiteten Lebensmittel stehen im Verdacht, Angstzustände, Depressionen und auch neurodegenerative Erkrankungen auszulösen – und zwar umso mehr, je öfter man hochverarbeitete Lebensmittel konsumiert.
Ganz abgesehen von gesundheitlichen Folgen wie Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen, Adipositas oder verschiedenen Krebsarten, das zeigen mehrere Studien.
Doch was macht diese Lebensmittel so bedenklich? Und wie kann man sich vor den Folgen des Verzehrs schützen? Immerhin sind sie oft praktisch, und so manche schmecken auch gut. Vieles ist noch unklar, Forschende suchen nach Antworten auf wesentliche Fragen. Doch das Wissen zum Einfluss der Nahrung auf die Gesundheit wird immer größer.
Von natürlich bis hochverarbeitet
Bereits im Jahr 2009 haben brasilianische Forschende eine vierstufige Skala entwickelt, die Lebensmittel in unverarbeitet, minimal verarbeitet, verarbeitet und hochverarbeitet einteilt. Unverarbeitet sind etwa Obst, Gemüse, Getreide, Reis, Hülsenfrüchte oder Milchprodukte. Minimal verarbeitet sind diese Lebensmittel, wenn sie zerkleinert, gepresst oder raffiniert wurden, also etwa Stärke, Öle, Essig oder Zucker. Verarbeitet ist alles, was gebacken, geräuchert, gepökelt, konserviert oder vergoren ist, wie Brot, Marmeladen, Aufstriche, Konserven, Bier oder Wein. Hochverarbeitet oder ultraprozessiert sind schließlich fast alle industriell hergestellten Lebensmittel wie eben Cerealien, Snackriegel oder Fertigtiefkühlgerichte.
"Hochverarbeitete Lebensmittel enthalten Zutaten, die man in Rezepten zu Hause nicht verwenden würde. Maissirup zum Beispiel, gehärtete Öle, Proteinisolate oder chemische Zusätze wie künstliche Aromen, Süßstoffe, Emulgatoren und Konservierungstoffe", erklärt Eurídice Martínez Steele, sie forscht zu Lebensmittelverarbeitung an der Universität Sao Paulo in Brasilien und hat die Skala mitentwickelt. Das Klassifizierungssystem wird mittlerweile von den meisten Ernährungsforschenden verwendet.
Zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln gehört der Großteil der verpackten Lebensmittel, die sich immer öfter in Supermarktregalen finden. Sie werden auch in allen gesellschaftlichen Gruppen zunehmend konsumiert.
Der britische Arzt und Professor am University College London Chris van Tulleken betont im STANDARD-Interview, dass oft mit den billigstmöglichen Zutaten Lebensmittel hergestellt werden, die aufgrund ihrer Zusammensetzung süchtiger machen als Alkohol oder Nikotin. Woran das liege, sei noch nicht klar. Doch es müsse an der speziellen Zusammensetzung mit Aromen, Emulgatoren und mehr liegen, die darauf abgestimmt seien, dass man immer mehr von einem Produkt wolle.
Fertigprodukte und die Psyche
Doch nicht nur Sucht ist ein Thema, auch die Psyche wird dadurch beeinflusst. Das hat etwa eine Studie aus dem Jahr 2022 mit über 10.000 erwachsenen Teilnehmenden in den USA gezeigt. Je öfter sie hochverarbeitete Lebensmittel konsumierten, desto eher neigten sie zu Ängsten und depressiven Verstimmungen. "Jene, die zumindest 60 Prozent ihrer Kalorienaufnahme mit hochverarbeiteten Lebensmitteln deckten, hatten deutlich mehr Tage, an denen sie sich psychisch schlecht fühlten", sagt Studienautor Eric M. Hecht von der University of Miami Miller School of Medicine. Das sei zwar kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang, aber es gebe ziemlich sicher eine Verbindung.
Auch eine brasilianische Studie, die im Jahr 2022 abgeschlossen wurde, liefert entsprechende Hinweise. Dafür wurden fast 11.000 Erwachsene über ein Jahrzehnt begleitet. Sie hat ergeben, dass ein hoher Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln mit einer schlechteren kognitiven Funktion in Verbindung steht. Die Betroffenen konnten sich weniger gut an Dinge erinnern, Neues erlernen oder Probleme lösen.
Studienautorin Natalia Gomes Goncalves von der Universität São Paulo Medical School sagt: "Mit zunehmendem Alter kommt es zu einem natürlichen Rückgang dieser Fähigkeiten. Aber bei Menschen, die mehr als 20 Prozent ihrer Kalorienaufnahme mit Fertignahrungsmittel und Ähnlichem abdeckten, hat sich dieser kognitive Abbau um 28 Prozent beschleunigt."
Möglicherweise kann eine gesunde Ernährung diese schädlichen Auswirkungen aber ausgleichen. Die brasilianischen Forschenden prüften, ob die MIND-Diät, die reich an Vollkornprodukten, grünem Blattgemüse, Hülsenfrüchten, Nüssen, Beeren, Fisch, Huhn und Olivenöl ist, das Demenzrisiko durch hochverarbeitete Lebensmittel reduziert – und stellten fest, dass diese das in hohem Ausmaß tut. "Bei denjenigen, die die MIND-Diät befolgten, aber trotzdem Fertigprodukte aßen, zeigte sich kein kognitiver Rückgang", weiß Goncalves.
Wenig Wissen über Wirkung
Doch warum haben hochverarbeitete Lebensmittel diesen Effekt überhaupt? Das ist nicht klar, wie das Fachjournal "Nature" schreibt. Zwar zeigen viele hochwertige randomisierte Studien die positive Wirkung einer nährstoffreichen Ernährung auf Depressionen. "Aber wir verstehen immer noch nicht vollständig, welche Auswirkung verarbeitete Lebensmittel auf die psychische Gesundheit haben", sagte Melissa Lane, die am Food & Mood Zentrum der Deakin University in Australien forscht.
Eine wichtige Rolle dürfte das Darmmikrobiom spielen. Mittlerweile untersuchen mehrere Studien den Zusammenhang zwischen Bakterienflora im Darm, Gehirn und psychischer Gesundheit. Das Mikrobiom profitiert vor allem von ballaststoffreicher Ernährung, wie DER STANDARD etwa hier berichtete. Hochverarbeitete Lebensmittel enthalten im Normalfall aber sehr wenig Ballaststoffe. Diese kommen vor allem in Vollkorn, Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Samen und Nüssen vor. Die Bakterien brauchen sie, um kurzkettige Fettsäuren zu produzieren, die für die Gehirnfunktionen wichtig sind.
Wir wissen, dass Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Störungen ein weniger vielfältiges Darmmikrobiom und weniger kurzkettige Fettsäuren haben. Auch chemische Zusätze in hochverarbeiteten Lebensmitteln können sich auf die Darmflora auswirken", berichtet Wolfgang Marx, Präsident der International Society for Nutritional Psychiatry Research und Senior Research Fellow an der Deakin University. "Neue Erkenntnisse vor allem aus Tierversuchen deuten außerdem darauf hin, dass isolierte Nährstoffe wie Fructose, Zusatzstoffe wie künstliche Süßstoffe oder Emulgatoren das Mikrobiom negativ beeinflussen können. Und auch Humandaten gibt es mittlerweile dazu."
Zucker führt zu Entzündungen
Ein wenig diverses Mikrobiom im Darm und zuckerreiche Ernährung können aber chronische Entzündungen verstärken – diese wiederum stehen mit geistigen und körperlichen Problemen in Zusammenhang. Die Wechselwirkung von erhöhten Entzündungswerten und dem Gehirn könnte Depressionen vorantreiben. Die Ernährung beeinflusst also die Stimmung, aber die Stimmung beeinflusst auch die Ernährung. Ist man gestresst, ängstlich oder fühlt sich deprimiert, greift man eher zu Lebensmitteln mit viel Fett, Zucker und chemischen Zusatzstoffen.
Es ist also durchaus sinnvoll, hochverarbeitete Lebensmittel am Speiseplan zu reduzieren. Doch wie erkennt man diese? Am besten über die Zutatenliste. Als Faustregel gilt: Je länger diese ist und je mehr unverständliche Dinge dort stehen, desto höher verarbeitet ist das Produkt. Eine zweite Faustregel ist: Findet sich eine Zutat nicht in privaten Vorratskammern, dann ist es besser, sie nicht zu essen. Das heißt aber nicht, dass man absolut keine verarbeiteten Lebensmittel essen darf. Bohnenkonserven etwa, Tiefkühlgemüse oder Fischkonserven können Teil einer gesunden Ernährung sein. Wichtig ist nur, dass man die weiteren Zutaten, Kräuter etwa, Salz oder Öl, auch zu Hause einsetzen würde.
Pia Kruckenhauser, Standard vom 3. August 2023
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